Zehn teuflische Sekunden

Es waren nur zehn teuflische Sekunden.

Zehn Sekunden im Herzen irgendeines Verkündigers – vor langer, langer Zeit.

Petrus kann es nicht gewesen sein. Denn der ist an seinen frommen Vorsätzen dermaßen gescheitert, dass er für den Rest seines Lebens aus der Gnade gelebt hat. Da bin ich mir ziemlich sicher.

Nein, Petrus war es nicht. Aber irgendjemand nach ihm.

Vielleicht war es ja einer, der noch nie gescheitert ist. Einer von den Typen, die von Sieg zu Sieg eilen. Solche Menschen neigen dazu zu glauben, ihnen sei alles möglich und die ganze Welt stehe ihnen offen.

Aber das ist nicht sehr wahrscheinlich. Vermutlich handelt es sich einfach um eine teuflische Lüge, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, um das Herz eines ernsthaften Predigers zu vergiften. Ich stelle mir das so vor:

Da sitzt er in seinem Studierzimmer und bereitet eine Predigt zu – sagen wir Römer 12, 9 bis 21 – vor. Vers für Vers geht er die dort formulierten Anweisungen durch:

  • Seid herzlich und teilnahmsvoll.
  • Begegnet einander mit Respekt.
  • Lasst euren Alltag vom Gebet geprägt sein.
  • Nehmt Anteil an den Notlagen anderer Menschen.
  • Seid gastfreundlich.
  • Segnet die Menschen, die Euch verfolgen.
  • Seid bereit, auch niedrige Aufgaben zu übernehmen.
  • Zahlt niemandem Böses mit Bosheit zurück.
  • Soweit Euch das möglich ist, lebt mit allen Menschen im Frieden.
  • Übt nicht selbst Rache für Euch aus.
  • Gebt den Hungrigen zu Essen und den Durstigen zu Trinken.
  • Lasst Euch nicht vom Bösen besiegen, sondern besiegt das Böse mit dem Guten.

Er macht sich hier und da Notizen und staunt über die Wucht der göttlichen Standards.

Vielleicht wäre es anders gelaufen, hätte er den kompletten Römerbrief gelesen. Dann wäre ihm wohl auch ein Vers wie dieser nicht verborgen geblieben: „Kein einziger Mensch kann sich selbst aufgrund seiner eigenen Taten vor Gott gerecht machen. Denn das Gottesgesetz mach deutlich, was Sünde wirklich ist.“ (Römer 3, Vers 20).

So aber hatte der Vater der Lüge ein leichtes Spiel. Zehn teuflische Sekunden reichten aus.

In diesen zehn Sekunden schoss es ihm durch den Kopf und wanderte in sein Herz: „So muss ich sein, jetzt und hier, ohne Abstriche. Bin ich es nicht, bin ich verloren!“

„So muss ich sein, jetzt und hier!“. Mit diesem Anspruch, unter dieser Last beginnt er damit, seine Predigt zu formulieren. Und sie wird richtig gut. Geistreich, witzig und voller praktischer Beispiele. Eine Predigt, die man gerne hört.

Während er also die göttlichen Standards vor seiner Gemeinde verkündigt vermeidet er tunlichst jegliches Anzeichen einer eigenen Schwäche. Stattdessen garniert er seine Ausführungen immer wieder mit Berichten über sein erfolgreiches Gebetsleben, seine Nächsten- und Feindesliebe, seine Gastfreundschaft, sein soziales Engagement. Nicht ohne Wirkung auf seine Zuhörer.

Aufgrund dieser Predigt setzt sich in vielen Hörern der Eindruck fest: „Der hat es geschafft, der hat es erreicht. Der ist bereits da, wo wir erst noch hin müssen. Und wenn er das geschafft hat, dann können wir das auch. Dann ist ein Scheitern nicht vorgesehen. Dann gibt es nur Ganz oder Gar nicht.“

So wandert diese Lüge von Herz zu Herz, sie verbreitet sich wie ein Lauffeuer: „So muss ich sein, jetzt und hier, ohne Abstriche. Bin ich es nicht, bin ich verloren!“

Langsam aber stetig findet in der Gemeinde ein Klimawandel statt: aus einer Gemeinschaft der Sünder wird eine geistliche Elitetruppe. Immer mehr Geschwister spielen sich- und den anderen etwas vor. Man tut so, als wäre man schon angekommen.

Währenddessen ist unser Prediger zum viel gefragten Referenten geworden. Seine rhetorische Brillianz verbunden mit seinem siegreichen geistlichen Leben haben sich schnell in den frommen Kreisen herumgesprochen. Und so predigt er auf zahlreichen Konferenzen und bei diversen Großveranstaltungen.

Die Zeit wird knapper, die Ansprüche höher, der Druck immer größer. Also greift er schon mal zur Flasche, um sich zu beruhigen. Der Rausch hilft ihm dabei, von seinem sieghaften geistlichen Leben zu erzählen. Außerdem lügt er ja niemanden bewusst an. Er setzt halt nur an den geeigneten Stellen eine Betonung und lässt anderes aus. Den Rest machen seine Hörer. Die hören, was sie hören wollen. Was kann er dafür?

Der Absturz kommt dann plötzlich. Während einer Predigt kippt er einfach um. Liegt da vor der entsetzten Gemeinde und kommt nicht mehr hoch. Dann das Krankenhaus, die Entgiftung, die Klinik.

Anfangs rauscht es im christlichen Blätterwald. „Wie konnte so etwas nur passieren? Warum hat man das nicht viel früher gemerkt? Was hat er wohl falsch gemacht?“ Doch mit der Zeit gerät unser Verkündiger mehr und mehr in Vergessenheit. Für ihn ist das gut so. Er braucht jetzt Zeit, um sein Leben zu ordnen.

Und die Gemeinde?

Sie hätte die Chance, sich auf das zu besinnen, was wirklich trägt und hält: auf die göttliche Gnade. Doch leider gibt es da schon andere Verkündiger, die bei ihrem gescheiterten Vorgänger in die Lehre gegangen sind. Jahrelang haben sie unter seinen Predigten gesessen. Nach wie vor sind sie davon überzeugt: „So muss ich sein, jetzt und hier, ohne Abstriche. Bin ich es nicht, bin ich verloren!“

Und so setzt sich dieses teuflische Spiel fort. Es ist ein Kommen und Gehen, ein Aufsteigen und Abstürzen. Bis heute.

Und das alles wegen zehn teuflischer Sekunden – vor langer, langer Zeit.