Outtakes, Teil II: Borreliose der Seele

Hier noch ein Text, den ich aus dem Buchmanuskript gestrichen habe, da er an anderer Stelle hinreichend aufgenommen und erklärt wird:

„Borreliose der Seele

Diese Kapitel zu schreiben, hat mir eine Menge abverlangt. Und das nicht nur, weil die hier beschriebenen Gedanken und Handlungen so abgefahren und peinlich sind, sondern vor allem auch darum, weil die alten Gespenster meine Erinnerungen und Beschreibungen zum Anlass genommen haben, um erneut bei mir anzuklopfen. Darauf war ich nicht vorbereitet! Selbst die während meiner Psychotherapie erlernten Bewältigungsstrategien schienen auf einmal nicht mehr zu greifen. Eine Zeit lang hat mich das so fertig gemacht, dass ich mir von der Kassenärztlichen Vereinigung eine Liste mit freien Therapieplätzen besorgt habe. Die Angst vor der Angst kroch erneut in mir hoch: „Würde mich dieses Buchprojekt am Ende doch noch in den Wahnsinn treiben?“

Inzwischen bin ich wieder recht stabil, aber die letzten Wochen waren doch sehr intensiv und heftig für mich. Umso mehr hoffe ich natürlich, dass sich diese Mühe auch lohnt. Das wäre aus meiner Sicht schon dann der Fall, wenn ich ein wenig dazu beitragen könnte, psychische Erkrankungen zu enttabuisieren und den Umgang mit den Betroffenen etwas zu entkrampfen.

Stellen Sie sich vor, jemand aus Ihrem Bekanntenkreis wurde von einer Zecke gebissen und erkrankt darauf hin an Borreliose. Da er bereits Lähmungserscheinungen hat, muss er sofort ins Krankenhaus, um dort behandelt und beobachtet zu werden. Wie reagieren Sie? Sie schnappen sich einen Blumenstrauß oder eine Tafel Schokolade und machen sich auf den Weg, um sie oder ihn zu besuchen. Ist doch eine Selbstverständlichkeit! Was aber, wenn die selbe Person aufgrund einer Bipolaren Störung in eine entsprechende Fachklinik muss? Werden Sie sich dann auch auf den Weg machen? Vermutlich eher nicht. Denn schon der Gedanke an eine Psychiatrische Klinik ist beunruhigend und verstörend. Wer geht schon gerne freiwillig in die „Klapse“? Und worüber sollten Sie dort reden? Darf man eine solche Krankheit überhaupt ansprechen? Und falls man sie anspricht, wie macht man das, ohne sein Gegenüber zu verletzen?

Die Begegnung und der Umgang mit psychisch Kranken ist für viele von uns schwierig – und ich kann das gut verstehen. Denn eine solche Erkrankung ist nicht so leicht zu greifen und oft auch nur schwer zu vermitteln. Bei einem Beinbruch weiß man wenigstens, woran man ist. Bei einer psychischen Erkrankung, wie zum Beispiel einer Depression, ist das viel schwieriger. Da gibt es eine Menge Fragen und auch manche Vorurteile: „Wie soll man einen Menschen verstehen, der einfach nicht aus dem Quark kommt? Ist so etwas denn wirklich eine Krankheit? Bräuchte er oder sie nicht einfach einen kräftigen Tritt in den Hintern, um wieder in die Spur zu kommen? Hat nicht jeder von uns mal irgendwann einen Durchhänger? So etwas geht doch wieder vorbei, da muss man doch nicht gleich zum Arzt rennen und Pillen schlucken, oder? Wie ist das überhaupt mit diesen Medikamenten gegen eine Depression: Wie und warum wirken die eigentlich? Oder wirken die vielleicht gar nicht und der Patient bildet sich das alles nur ein?“ Hier gibt es noch immer eine Menge Aufklärungsbedarf.

Um psychische Erkrankungen besser verstehen zu können, musste man sich früher durch trockene und schwer verständliche Fachbücher quälen. Doch das ist längst nicht mehr der Fall. So ist das beste Buch über Depressionen, das ich kenne, ein Bilderbuch: ein Bilderbuch für Erwachsene, das von einem Betroffenen gezeichnet und geschrieben wurde1. Darüber hinaus gibt es inzwischen eine Einführung in die verschiedenen Krankheitsbilder und ihre Therapiemöglichkeiten, die mit so viel Humor und Leidenschaft geschrieben ist, dass man dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte2. Es ist also heute sehr viel einfacher geworden, sich zu informieren.

Doch mehr noch als durch tausend Bücher lernen Sie durch die Begegnung und das Gespräch mit Betroffenen. Darum möchte ich Sie hier ermutigen, Ihre Scheu zu überwinden und Ihre psychisch erkrankten Freunde oder Bekannten so zu behandeln, als hätten sie eine Borreliose, eine Borreliose der Seele. Bitte gehen Sie nicht auf Distanz, sondern wenden Sie sich ihnen zu! Sie werden dadurch eine Menge lernen. Und für die Betroffenen ist ihre Nähe und Anteilnahme von unschätzbarem Wert. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.“

1Matthew Johnstone: „Mein schwarzer Hund: Wie ich meine Depression an die Leine legte“

2Manfred Lütz: „Irre! – Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen“

Veröffentlicht von

Volker Halfmann

Ehemann, Vater, Gotteskind, liebevoller Chaot, Musiker, Buchautor, Fan von ProgRock und den Würzburger Kickers, Pastor, Suchtberater beim Blauen Kreuz, Jesus-Schüler mit Sprung in der Schüssel ...

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